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Leseprobe "Maifestspiele"
aus "Heides Zeit in Berlin"
© Klaus Schumacher, Indien und Berlin 2008
 
Seit Fred in Berlin war, kannte er es nicht anders, als daß es dann und wann zu Auseinandersetzungen zwischen Anarchos und der Polizei gab. Auch wenn es in der Presse anders rüberkam und selbst seine eigene Mutter glaubte, in Kreuzberg brenne es jederzeit und überall, und sie sich darum sogar genierte, Nachbarn, Verwandten und Bekannten zu erzählen, daß ihr Sohn in Kreuzberg wohne - Fred bekam von solcher Randale in den seltensten Fällen überhaupt etwas mit.
  Doch an diesem 1. Mai war es anders. Wie üblich an einem der ersten lauen Sommerabende, dazu alkoholisiert im Lauf des Feiertages, stieg der Mob auf die Barrikaden und warf Pflastersteine auf "die Bullen". Die Polizei eskalierte einmal nicht und ließ geschehen - und das hintere Kreuzberg verwandelte sich binnen zwei Stunden in eine autonome, polizeifreie Zone, mit umgeworfenen und angezündeten Bauwagen, abgefackelten Autos und jeder Menge eingeschlagener Schaufensterscheiben. Geschäfte wurden geplündert, einfach so, aus "Volkssport". So auch ein größerer Bolle-Supermarkt am Görlitzer Bahnhof, gleich gegenüber der Feuerwache. Ein paar Idioten zündeten den Laden sogar an. Es begann zu brennen. Dann bekam die Feuerwehr Alarm und wollte zu dem schräg gegenüber liegenden Brand ausrücken.
  "Erst ist es die Feuerwehr, dann kommen die Bullen. Und die wollen wir hier heute nicht haben. Also last die Feuerwehr nicht durch!" war schnell die Parole. Der Bolle-Laden stand lichterloh in Flammen und brannte vollkommen ab, und die Feuerwehr stand fünfzig Meter weiter Gewehr bei Fuß und kam nicht durch. Auch die Polizei kam in diesen Bereich nicht mehr hinein.
  Fred saß gerade zu Hause, hörte den allgemeinen Tumult in Form nicht versiegenden, entfernten TaTü-TaTas, und fühlte sich nicht im mindesten hinausgezogen. Er mochte Demos und Krawall nicht. Norma hingegen war mal raus gegangen. Nach einer Weile kam sie wieder. Draußen begann es allmählich zu dämmern.
  "Du mußt unbedingt noch hinaus gehen. So etwas hast du noch nicht gesehen!"
  So ging Fred denn zumindest mal bis zum Lausitzer Platz. Doch was er da sah, ließ ihn weitergehen. Das Volk feierte! - in einem Maße, wie er es noch nie erlebt hatte und wie es für ihn unvorstellbar gewesen war.
  "Hurrah, wir haben die Bullen rausgeschmissen!" war die Stimmung.
  Leute klopften mit leeren Flaschen im Takt auf diejenigen Altglasbehälter, die noch nicht in Flammen aufgegangen waren. Dieses dumpfe "bumm, bumm, bumm" war weithin zu hören und verlieh dem Ganzen etwas Archaisches. Die Luft war geschwängert von dem beißenden Geruch brennenden Plastiks. Es fiel schwer zu atmen. Doch die Situation und die Stimmung waren so einzigartig, daß Fred dies ausnahmsweise einmal in Kauf nahm. Vorbei am lichterloh brennenden Bolle. Vorbei an eingeschmissenen Schaufenstern, vorbei an Leuten, die, vollgerafft mit Beute, aus Geschäften kamen. Hätte er schwach werden können, auch etwas abzugreifen? Etwas, das unmittelbar vor ihm lag? Nein! Egal, was es wäre. Fred machte seinen Weg durch die dichtgedrängte Menschenmasse bis zum Kottbusser Tor. Über ihm, im oberirdischen Teil des U-Bahnhofes, hörte er es immer wieder Klirren. Fred sah hinauf und sah einen Idioten, der systematisch eine Scheibe nach der anderen einschlug.
  Dann ging er abermals durch die Haupt-Tumultzone zwischen Kottbusser Tor und Görlitzer Bahnhof und von dort nach Hause. Inzwischen stank es im ganzen Stadtteil fürchterlich nach brennendem Plastik. Fred war nur kurz in seiner Etage, da zog er bereits wieder los.
  "Was machst du?" fragte Norma.
  "Ich nehm´s Auto und hau ab!"
  "Glaubst du denn, du kommst da noch durch?"
  "Mal sehen."
  .......

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