HERKUNFT

Leseprobe "Tempel" aus "Indien-Impressionen"

Der Strom teilt sich in einem kleinen Ort. Einige gehen weiter entlang der Straße, andere biegen hier ab. Es scheint zu einem Tempel zu gehen, der etwas abseits liegt. Und da ich ja an allen Tempeln anhalten will und auch, weil ich neugierig bin, biege ich ab. Es geht um mehrere Ecken, dann stehe ich vor einem größeren Tempel. Ich gehe hinein. Innen laufe ich auf eine Anstehschlange, die sich nur sehr langsam vorwärts bewegt. Darauf habe ich jetzt keine Lust, ich bin immerhin schon lange unterwegs, darum bewege ich mich nur im äußeren Tempelhof. Es ist nicht besonders interessant hier. Da fällt mein Blick durch ein kleines, hohes Fensterchen gegen die Decke des Innenbereiches, ich werde berührt von etwas Magischem, Mystischem, und ich weiß jetzt nur noch eins: Da muss ich rein! Also stelle ich mich ans Ende der Schlange. Es dauert eine ganze Weile, bis ich endlich ins Tempelinnere treten kann, doch da geht das Spalier weiter, bildet eine mehrfach gewundene Schlange, und sie führt zum Tempelinnersten. Nebenan gehen Leute an der Schlange vorbei, direkt und ohne warten zu müssen ins Innerste. Draußen, am Tempeleingang, haben sie einen Obulus bezahlt, dafür dürfen sie nun an der langen Schlange vorbeiziehen! Diesmal macht es mir nichts, kaum von der Stelle zu kommen, ich bin drin in dieser faszinierenden Atmosphäre und die Langsamkeit meiner Schlange garantiert mir, dass ich hier so schnell nicht wieder heraus muss. Die Decke des Raumes stützt sich auf rund 100 Pfeiler, alle aufwendig und kunstvoll aus Stein gehauen und oben, in Deckenhöhe, teilen sie sich, bilden zwei Köpfe aus, die in entgegengesetzter Richtung erst entlang der Decke verlaufen und dann wieder ein Stück nach unten, sich dabei zuspitzend wie die herabhängende Fruchtspitze einer Bananenstaude. Einige Neonröhren an der Decke verbreiten eine fahle Grundbeleuchtung und in Halterungen, die von der Decke herabhängen, stecken sehr große Glaskelche mit je einer orangenen Glühbirne darin. Das Tempelinnerste interessiert mich nicht, rasch muss ich auf dessen anderer Seite wieder ins Tempelinnere heraustreten, bin wieder in diesem grandiosen Raum, nun ohne Schlange, kann mich frei darin bewegen. Eine Art Weihrauch schwängert hier die Luft, der Rauch verstärkt die mystische Atmosphäre. Eine Unzahl von Ventilatoren, sei es als Propeller von der Decke, sei es als Lüfter oben in den Wänden, erzeugen ein gleichmäßiges, mahlendes, vibrierendes Schweben von unterschwellig hypnotisierender Wirkung. Fledermäuse jagen durch den Raum. Ich komme an einem Brunnen vorbei, der sich an einer Seitenwand des Raumes befindet. Er ist tief, ich kann kein Ende erkennen, auch nicht, nachdem sich meine Augen an die Schwärze darin gewöhnt haben. Dafür aber sehe ich, wie reichlich Fledermäuse in der Tiefe herumfliegen. Nun habe ich alles gesehen, ich befinde mich schon am Ausgang, doch ich mag noch nicht gehen, dazu übt dieser Ort einen viel zu großen Magnetismus auf mich aus. Also gehe ich noch einmal ein Stück weit in den Raum hinein, setze mich auf den Boden und lehne mich gegen einen der Pfeiler, den Blick sowohl auf eine der heiligsten Stellen gerichtet, an deren Eingang ein Priester Asche an die Vorbeiziehenden verteilt, als auch in die rauchgeschwängerte, gespenstische Tiefe des Raumes. Ich schließe die Augen. Bin ich wirklich hier, an diesem fantastischen Ort? Das Geräusch der Ventilatoren bejaht meine Frage.