HERKUNFT

Leseprobe "Mausoleum"
aus "Von Buenos Aires nach Ayahuasca"
© Klaus Schumacher, Berlin 2006

"In welchem Mausoleum sind wir denn hier gelandet?" Was von außen wie ein normales Gebäude aussah, hat im Erdgeschoß fahl beleuchtete, klobige, steinerne Korridore, seltsam angeordnet und in großen Spiegeln endend. "Hier wohnt meine Mutter", sagt Shanti, die mit 23 Jahren einst eine ungewöhnlich junge Professorin für Mathematik war - die jüngste Professorin, die es je in Argentinien gegeben hatte - , sich dann auf einer Reise nach Europa dort verliebt hat, ihre Professur aus der Ferne kündigte und sieben Jahre auf Ibiza lebte. Anschließend war sie 23 Jahre in Indien. Nun zwängen wir uns durch eine dieser steinernen Wände hindurch in einen klapprigen Aufzug hinein. Ein Scherengitter schließt schwerfällig von selbst, dann geht es aufwärts. Ab dem 7. Stock wird es mir unbehaglich zumute in der alten Kiste und ich male mir den tiefer werdenden Abgrund unter unseren Füßen aus, doch es geht höher und immer höher. Endlich stoppt der Käfig in der 20. Etage. Die Tür öffnet sich - und wir stehen mitten in einer antiquiert eingerichteten, feudalen Wohnung. (10) Das Dienstmädchen, eine Frau aus Uruguay in reiferen Jahren, läßt uns Platz nehmen. Und dann kommt eine kleine, charmante, rüstige alte Dame von 94 Jahren ins Zimmer, bewegt sich behende auf das Sofa zu und beginnt mit uns zu plaudern. (11) Immer wieder muß ich aus den großen Fenstern schauen. Das Panorama ist großartig. (12) Ein paar hundert Meter weiter beginnt das Meer, oder genauer gesagt, der Rio de la Plata, halb Flußdelta, halb Meerbusen, an dessen gegenüberliegender Seite bei guter Sicht von hier oben das 70 km entfernte Uruguay zu sehen ist. (13) Auf die Turmspitzen der alten Kirche, an der wir vorhin auf der Straße vorbeigekommen sind, schaut man herab. (14) Früher war die Aussicht noch viel besser, man konnte in voller Breite über das Meer schauen, doch dann haben sie Shantis Mutter ein paar Wolkenkratzer vor die Nase gebaut. Die alte Dame erhebt sich und begibt sich zu ihrem Bechstein-Flügel. Sie gibt uns ein Ständchen, spielt Tangos und traurige Lieder. Sie spielt lange und wir lauschen ihr berührt. (15) Längst ist es Nacht geworden, als wir sie in ihrer luftigen Höhe verlassen.

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