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Leseprobe "der Fund"
© Klaus Schumacher, Berlin, 2005
 
Das Aufregendste, was ich mit meinen Kommilitonen von der Studentenverbindung je erlebte, geschah außerhalb des normalen Rahmens, der mir ohnehin oft viel zu förmlich war. Es war ein Erkundungstrip in die unterirdischen Gänge, viele Meter unterhalb der Stadt. Frühe Kanalschächte, unterirdische Brauereikeller, Luftschutzräume aus dem 2. Weltkrieg und Gänge, die noch aus dem 30-jährigen Krieg stammen sollten, bildeten dort unten ein kleines Labyrinth. War man erst einmal unten angelangt, spielte sich alles auf derselben Tiefe ab.
  Es gab allerdings dort unten eine Stelle, wo eine Treppe weitere fünf Stufen hinabführte, in einen nur wenige Quadratmeter großen Raum. Dies war der tiefste Bereich in dem ganzen Labyrinth, und wir konnten uns keinen Reim darauf machen.
  Mehrfach waren uns in den benachbarten langen Gängen alte, leere Weinflaschen aufgefallen, die hier und da auf dem Boden lagen. Es waren noch solche alten Langhalsflaschen, die rund ein Jahrzehnt zuvor durch die kürzere Version ersetzt worden waren. Sie schienen schon Ewigkeiten hier zu liegen und wir beachteten sie nicht weiter.
  Als Hermann die genannte Treppe hinunterging, hatte er Pech. Eine der Stufen hatte nur noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Breite, weswegen irgendwann einmal ein Brett von normaler Stufenbreite darüber gelegt worden war. Das konnte Hermann nicht ahnen. Als er auf diese Stufe relativ weit hinten auftrat, kippte das aufliegende Brett nach hinten weg, Hermann stand unvermittelt auf dem Nichts und kam zu Fall. Kopfüber klatschte er auf den Boden. "Oaooh!" stöhnte er, am Boden liegend. Wir halfen ihm rasch auf, doch sein starker Schmerz blieb, er konnte den rechten Arm nicht mehr bewegen. Wir mußten unsere Expedition für heute abbrechen und Hermann ins Krankenhaus bringen, denn es war Nacht und kein normaler Arzt war erreichbar.
  Es war der heißeste und trockenste Frühsommer, an den ich mich erinnern konnte, es hatte wochenlang nicht geregnet, alles war knochentrocken, das Gras war gelb, vollkommen ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Hermann war von oben bis unten mit Schlamm verdreckt, so konnten wir ihn unmöglich ins Krankenhaus bringen, er hätte sich unweigerlich die Frage gefallen lassen müssen, wo in aller Welt er denn bei dieser Trockenheit hatte in den Matsch fallen können, und eine ehrliche Antwort hätte wohl den Versicherungsschutz durch die Krankenkasse gekostet, denn Abenteuer dieser Art werden üblicherweise nicht abgedeckt. Also mußte der arme Kerl zunächst unter die Dusche gehen und sich umziehen, und das mit dem ramponierten Arm. Hermann jaulte.
  Im Krankenhaus ließ ihn der Arzt sich quer auf einen Stuhl setzen und den lädierten Arm über die Lehne hängen, dann ergriff er den Arm an der Hand, hob ihn unter lautem Jaulen von Hermann bis auf Schulterhöhe an und sagte: "Das war´s! Sie können wieder nach Hause gehen, war nur ausgekugelt."
  Tags darauf setzten wir unsere Expedition fort, Hermann wollte allerdings nichts mehr davon wissen. Es war abermals der Bereich nach der besagten Treppe, der uns anzog. Diese Zone war nicht groß, Ziegelschutt bedeckte den Boden, doch am ungewöhnlichsten war, daß die Stirnseite auf voller Breite und Höhe mit Ziegeln zugemauert war. Was mochte das für einen Sinn haben? Was war wohl dahinter?
  Als wir das nächste Mal antraten, hatten wir Vorschlaghammer und Meißel dabei und begannen, diese Wand in der Mitte auf Brusthöhe aufzustemmen. War das ein mühseliges Geschäft! Wir waren es gewöhnt, einen Kugelschreiber zu halten und mathematisch formulierte Aufgaben zu lösen und hatten darin ein gutes Stehvermögen, doch mit einem Einpfünder immer wieder auf einen Meißel einzuschlagen, das nagte schnell an der Kraft. Nach vier Stunden waren wir drei Ziegel tief gekommen, es war bereits Mitternacht, wir vertagten uns.
  Auch beim nächsten Mal verbrachten wir Stunde um Stunde mit Meißeln. Jetzt mußte es soweit sein, ein Ziegel in sechs Ziegel Tiefe war so gut wie durch. Was mochte nur dahinter sein? Wer baut in fast 15 m Tiefe eine sechs Ziegel dicke Mauer, und warum bloß?
  "Sagt mal, hier in der Nähe ist doch eine Bank!" fiel Christian nun ein.
Bei der Abwägung, was wir uns einbrocken würden, wenn wir gleich im Tresorraum einer Bank stünden, überwog die Neugier. Ein wenig später war der Ziegel durch und mit ihm die Mauer. Unsere schon wieder müde gewordenen Taschenlampen fokussierten die Stelle, die mehr als eine Elle tief in der Wand klaffte. Wie mochten allerdings nicht glauben, war wir nun sahen: felsige Erde, wie an allen anderen Stellen des Labyrinths auch.
  "Es macht doch keinen Sinn, den Fels sechs Ziegel dick zu vermauern!"
Ich leuchtete auf den Boden. Hier, wo wir standen, an der Ziegelmauer, lag der Schutt besonders hoch, drüben an dem Treppchen dagegen war weniger. Wir mußten uns das ursprüngliche Ausmaß dieses Raumes verschaffen, mußten herausfinden, wie tief der Boden eigentlich war, um die Mauer besser einschätzen zu können. Ich begann, an der einen Ecke Ziegelstücke zu entfernen. Kaum war ich mehr als eine Handbreit tiefer gekommen, da stieß ich auf Holz, das zu einer verschütteten Kiste gehörte. Ich machte weiter, bis ich erkennen konnte, was darin war. Sie war voll mit solchen Langhalsweinflaschen, wie sie in den Gängen herumlagen, doch diese hier waren voll! Wir leuchteten auf die Etiketten. Die meisten waren bis zur Unkenntlichkeit verrottet. Doch eines ließ sich mit viel Mühe entziffern: 1939. 1939? Das war fast 40 Jahre her! Vorkriegswein! Ich hatte nie zuvor welchen zu Gesicht bekommen.
  "Ob das Zeugs überhaupt noch genießbar ist?" zweifelte Günther.
  "Da hilft nur eins: ausprobieren!"
Wir nahmen ein paar Flaschen, deckten den Rest wieder ab und gingen zurück.
  Nachdem ich von der dunkelbraunen Flüssigkeit genippt hatte, verdrehte ich die Augen.
  "Giftig! Ich hab´s geahnt!" entsetzte sich Christian.
Doch ich konnte ihn beruhigen. "Nein, phantastisch!"
Es war mit Abstand das Erlesenste, was ich je gekostet hatte, dieser Wein hatte einen unglaublich reifen, vollen Geschmack. Wie wir später herausfanden, galt der 1939er als ein Jahrhundertwein.

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