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Leseprobe "die Kokosnuß"
aus "Uranus-Mars-Transite"
© Klaus Schumacher, Berlin, 2006

  An der Anlegestelle Wat Muang Khae sind wir die einzigen, die aussteigen. Ulli ist wieder einmal voll in ihrem Film drin und steuert mit schnellen Schritten sofort in Richtung Oriental-Hotel, als wir über den langen Steg vom Schwimmer ans Ufer gehen. Ich bleibe einen Moment stehen und blicke dabei aufs Wasser zwischen Schwimmer und Ufer. Irgend etwas schwimmt da auf dem Wasser, es ist eine Kokosnuß, die mal mehr, mal weniger aus dem Wasser heraustanzt.
  Doch mein Blick bleibt daran kleben. Da sehe ich, wie sie mehr aus dem Wasser herausragt, aber es ist gar keine Kokosnuß, es ist ein Kopf! Es ist jemand mit sehr dunklen Haaren, der da taucht. Na, ich wollte in diesem Fluß, in den die Abwässer von ganz Bangkok fließen, bestimmt nicht baden!
  Der Schwimmer taucht diesmal etwas weiter aus dem Wasser auf, der Kopf wird bis unters Kinn sichtbar. Ich sehe die sehr roten Augen eines Mannes, der so um die Dreißig sein muß. Sie wirken glasig und abwesend. Er muß vollgedröhnt sein, daß er so rote Augen hat und hier, in diesem dreckigen Fluß, badet. Viel Luft kann er bei diesem kurzen Auftauchen nicht geschnappt haben, und dabei war er doch ganz schön lange unter Wasser.
  Jetzt taucht er etwas höher auf, kommt bis zur Brust aus dem Wasser, und genau in diesem Moment ergießt sich ein Schwall Wasser aus seinem Mund.
  Widerlich, wie er diese Drecksbrühe auch noch in den Mund nimmt, ist einer meiner Gedanken. Gleichzeitig ist da ein anderer, der diesen Mann am Ertrinken sieht. Was tut man in diesem Fall? Hilfe holen? Hier ist gerade außer uns niemand. Ins Wasser springen, dabei meine Fotoausrüstung im Riß lassen, mit voller Kleidung in diese entsetzliche Dreckbrühe springen, in einen Fluß, von dem ich nicht weiß, wie tief, wie reißend, wie gefährlich er ist, um einen vermutlich Drogensüchtigen herauszuholen? Mit halbem Auge sehe ich, wie Ulli das Ende des Steges erreicht hat und jeden Moment entschwinden wird, und mit einem dritten Gedanken weiß ich, daß sie nicht auf mich warten wird, daß sie sich einfach von ihrem schnellen Schritt in das anliegende Stadtviertel tragen lassen wird und es ganz mir überläßt, ob ich sie begleite oder nicht.
  Instinktiv folge ich Ulli, einerseits angewidert vom dem, was ich hier sehe, andererseits hingezogen zu ihr. Ich will ihr sagen, was ich sah, will Hilfe holen, doch Ulli trabt unglaublich schnell, ich brauche eine Minute, bis ich sie eingeholt habe, da sind wir längst schon weit ab von dem Anlegesteg. Habe ich die Situation wirklich richtig eingeschätzt? Ist der Mann im Wasser, wenn es mir tatsächlich gelingt, mich jemandem gegenüber verständlich zu machen und Hilfe zu holen, dann nicht schon längst weitergetrieben? Ich bringe nicht einmal Ulli gegenüber ein Wort über diese Sache hervor. Und schon hat sie mich in ihren Bann geschlagen, in ihrem Film gezogen.
  Doch die Sache spukt seitdem in meinem Kopf herum, taucht auch Jahre später immer wieder einmal kurz aus dem Gedächtnis auf, so wie der Kopf des Mannes aus dem Wasser.

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